Grundwissen Sikhi: Leben mit Weisheit (Gurmat)
Selbsterkenntnis, gelebte Weisheit, Lebensfreude, Rechtschaffenheit, Naturverbundenheit und Hingabe am Gemeinwohl stehen im Herzen der Sikhi. Credits: Pexels
Eine Einführung in die Sikh-Religion
Leben mit Weisheit: Tugenden
Die Sikh-Religion (auch bekannt als Sikhismus) wird im Original Sikhi oder Sikh Mat genannt. Sie zählt zu den jüngsten Weltreligionen. Sikhi sieht alle Lebewesen als gleichwürdigen Teil einer Familie an. In ihrem Zentrum stehen einheitsstiftende und zugleich die Pluralität wahrende zeitlose spirituelle Weisheiten (Gurmat). Sie wurden im Mittelalter über 30 Erleuchteten offenbart, die unterschiedlichsten sozio-kulturellen Hintergründen entstammten. Die Offenbarungen sind in der eigens entwickelten Schriftsprache Gurmukhi überliefert. Die gesammelten Schriften werden Gurbani genannt. Die hingebungsvolle Rezitation, das Verständnis und die Verinnerlichung zeitloser Weisheiten stehen im Herzen des Sikh-Seins.
Sikhi inspiriert zu einer zyklischen und gemeinwohlorientierten Weltsicht. Diese transzendiert lineares und egoistisches Denken. Die Weisheiten der Sikhi ermutigen zu einem kreativen, furchtlosen und tugendhaften Leben. Die weisheitsorientierte Lebensweise bereitet so den Weg für ein gesundes, würdevolles und ethisches Leben im Einklang mit der Natur, der Tierwelt und dem Göttlichen.
Das Leben als Sikh, also Schüler spiritueller Weisheit, zeichnet sich durch eine bewusste und ganzheitliche Lebensführung aus. Dazu gehört, natürliche Bedürfnisse von Begierden zu unterscheiden, Kindheitsprägungen zu reflektieren und die Entfremdung von unserem Herzen zu überwinden. Grundvoraussetzung hierfür sind lebenslanges Lernen, Selbsterkenntnis und die Bewusstwerdung der Wirkung des eigenen Denkens und Handelns.
Sikhi ermöglicht es, das Leben als seelischen Weg der Heilung und Vervollkommnung anzunehmen. Dabei wird alles Vergängliche als Diaspora angesehen. Ausgehend davon versuchen Sikhs den Kreislauf von Geburt und Tod durch die fortwährende Verbundenheit (Nam) mit der höheren Weisheit (Hukam) der Urquelle allen Seins hinter sich zu lassen. Gelingt diese hohe Kunst, kehrt die Seele aus dem Ausland zurück zu ihrer eigentlichen Familie und Heimat - zum göttlichen Mysterium. Die Unermesslichkeit des Göttlichen wird durch die Betonung ihrer Form- und Namenlosigkeit (Anam) ausgedrückt. Entsprechend werden verschiedenste Namen für das Göttliche verwendet, darunter Allah, Hari, Kartar, Parmesar, Par Brahm, Ram, Sach Khand, Mitar, Sajan, Sukh Sagar und Wahe Guru.
Dem Wesen der Sikhi fremd sind dogmatische und dualistische Sichtweisen; ebenso ein Glaubensbekenntnis, die Anbetung eines externalisierten oder strafenden Gottes, ritualisierte Praktiken, Pilgerreisen, Fasten, Zölibat, Mönchstum, Aberglauben, Esoterik sowie spezifische Meditations- und Yogatechniken, Ablasshandel und der Gelderwerb im Namen der Religion.
Einheit in der Vielfalt: Inspiration
Die offenbarten Einsichten der Sikhi wurden in einer poetischen Schriftensammlung (Pothi) überliefert. Das Gesamtwerk der Überlieferungen wird von Sikhs heute zumeist als (Adi) Guru Granth Sahib (GGS) bezeichnet. Diese 1430-seitige Schriftensammlung dient Sikhs als höchste Quelle seelischer Inspiration und als ethischer Kompass. Der einflussreiche Weise Gur Nanak wurde 1469 in Nankana Sahib geboren. Er war der erste aus der Linie von zehn direkt aufeinanderfolgenden Erleuchteten (Gur). Gur Nanak initiierte die schriftliche Sammlung der Offenbarungen. Die Kanonisierung wurde im weiteren Verlauf maßgeblich vom fünften Weisen Gur Arjan (1563-1606) auf Basis der eigens entwickelten Schriftsprache Gurmukhi vorangetrieben. Neben den Überlieferungen aus der Linie der zehn direkten Erleuchteten enthalten die Schriften auch die Einsichten zahlreicher weiterer Weisen. Dazu zählen unter anderem die Überlieferungen des bedeutenden Weisen Bhagat Kabir (1398-1448), der vor Gur Nanak lebte.
Der zehnte Weise Gur Gobind Singh wurde 1666 geboren. Er vervollständigte 1708 die Arbeit der Verschriftlichung. Das vollendete Gesamtwerk verkörpert das Prinzip von Einheit in der Vielfalt. Es ist Ergebnis einer einzigartigen und über 200-jährigen generationsübergreifenden Teamarbeit. Damit stellte Gur Gobind Singh sicher, dass die Offenbarungen der vorangegangenen Weisen schriftlich bewahrt und von Generation zu Generation weitergegeben werden konnten. Seine eigenen Schriften ließ Gur Gobind Singh gesondert zusammentragen. Das Gesamtwerk ist heute als Dasam Granth bekannt. Darin enthalten sind auch Schriften, die zentraler Bestandteil der gemeinschaftlichen Rezitationen und bei der Initiierung eines Sikhs zur Gemeinschaft des Khalsa (Reinen) sind. Sikhs dieser Gemeinschaft erkennt man an einer spirituellen Lebensführung und einheitlichen Merkmalen, den Fünf Kakar. Der Khalsa wurde 1699 durch Gur Gobind Singh in Anandpur Sahib im Panjab geschaffen. Eine langjährige tugendhafte und weisheitsorientierte Lebensführung befähigt vorbildliche Sikhs zur Aufnahme in den Khalsa durch die Initiationszeremonie (Khande Di Pahul).
Ein altes Originalmanuskript der Gurbani in der Schriftsprache Gurmukhi mit den Offenbarungen der über 30 Weisen, die im Herzen der Sikhi stehen. Credits: Wikipedia
Weltweite Präsenz: Lebensfreude
Etwa 25 Millionen Menschen weltweit fühlen sich heute der Sikhi zugehörig. Ihre Anhänger werden Sikhs, Schüler spiritueller Weisheit, genannt. Die Mehrheit der Sikhs ist in der Ursprungsregion im Panjab beheimatet. Gleichwohl leben Sikhs inzwischen in allen Teilen der Welt gut integriert. Fleiß, Lebensfreude und Resilienz haben mit dazu beigetragen, dass Sikhs trotz andauernder Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen große Gemeinschaften mitsamt Gemeindestätten (heute zumeist Gurdwara genannt) unter anderem in Australien, Großbritannien, Kanada, Malaysia und den USA etablieren konnten. Zunehmend sind Sikhs in Führungspositionen und hohen politischen Ämtern tätig. In Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich Sikhs vor allem seit den 1980ern niedergelassen. Inzwischen leben dort schätzungsweise insgesamt ca. 35.000 Sikhs.
Die seelisch und sozial orientierte Lebensweise der Sikhi entwickelte sich zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert in Nordindien. Trotz wiederholter Unterdrückung und Verfolgung im Verlauf der Geschichte und der daraus resultierenden weltweiten Verstreuung konnten Sikhs im Kern die Weisheiten und Traditionen der Sikhi durch Hingabe und Optimismus bewahren. Gleichwohl setzen sich Sikhs in den letzten Jahrzehnten bewusster mit den Auswirkungen vielschichtiger Kolonialisierungserfahrungen auseinander. Diese haben zu einer facettenreichen Entfremdung von der weisheitsorientierten Lebensweise geführt. Entsprechend werden kolonisierte, wörtlich oder weltlich geprägte Interpretationen und Übersetzungen der überlieferten Weisheiten, Institutionen, Dogmen und Rituale sowie die Kapitalisierung der Religion, die dem Wesen der Sikhi eigentlich fremd sind, zunehmend reflektiert und hinterfragt. Im Zuge dessen gewinnen dezentrale und virtuelle Lernangebote und Reflexionsräume an Bedeutung. Die Tradierung zeitloser Weisheiten und der damit verbundenen Lebensweise findet für die nachkommenden Generationen verstärkt über Podcasts sowie (virtuelle) Workshops statt. Auch Seelsorge, Beratung bei Diskriminierungserfahrungen und Karrierefragen werden online oder dezentral organisiert.
Hingabe am Gemeinwohl: Solidarität
Sikhs setzen sich für Frieden, sozialen Zusammenhalt und den interreligiösen Dialog ein und engagieren sich für den Umwelt- und Klimaschutz. Sie stellen sich gegen Ungerechtigkeiten, Ausgrenzung, Rassismus und Benachteiligungen von Minderheiten sowie jegliche Form von Fanatismus, den Missbrauch von Macht und der Ausnutzung von Religion für politische und wirtschaftliche Zwecke.
Sikhs unterstützen zudem Hilfsbedürftige. Eine weltweit ausgeübte Tradition, die sich aus der gemeinwohlorientierten und solidarischen Haltung entwickelt hat, sind die Freiküchen. Sikhs bieten in ihren Gemeinden kostenlose Speisen für alle Besuchenden und Bedürftige wie Obdachlose und Flüchtlinge an. Dahinter steckt der Gedanke, dass alle Menschen, unabhängig vom Hintergrund, gleichwürdig und in der Sikhi willkommen sind. Sikhs helfen Opfern von Naturkatastrophen und Menschen in Notlagen mit seelsorgerischer Fürsorge. Zudem sammeln sie Spenden und liefern Essen und Hilfsgüter. In der Corona-Pandemie verteilten sie Masken und Sauerstoffflaschen und stemmten sich gegen die Verbreitung von Fake-News und Verschwörungstheorien.
Einzigartige Traditionen: Kreativität
Sikhi ist eine einzigartige und souveräne Lebensweise. Diese zeigt sich in einer eigenen Schriftsprache (Gurmukhi) und spirituellen Poesie (Gurbani) sowie Musiktradition (Sabad Chaunki) und Verteidigungskunst (Shastar Vidya, Gatka), die bis heute bewahrt werden.
Auch die Namen der Sikhs tragen eine Besonderheit. Als Zeichen von Geschwisterlichkeit tragen weibliche Sikhs den Nachnamen Kaur (Prinzessin, abgeleitet von Kunwar, Prinz) und männliche Sikhs den gemeinsamen Namen Singh (Löwe). Wo aus rechtlichen Gründen ein gemeinsamer Nachname erforderlich ist, verwenden Sikhs ein inspirierendes Wort aus der Gurbani, welches eine charakterliche Tugend ausdrückt.
Ebenso ist das Erscheinungsbild von Sikhs einzigartig. Sie bewahren ihr Haar traditionell ungeschnitten und bedecken es. Damit drücken sie Natürlichkeit, Würde, Demut und Respekt vor der Schöpfung aus. Traditionell erkennt man vor allem männliche Sikhs an ihrem Turban (Dastar) und ungeschnittenen Bart. Frauen bedecken ihren Kopf zumeist mit einem Tuch, manche tragen einen Turban. Sikh-Jungen verwenden ein Stofftuch (Rumal oder Patka), um die in der Kopfmitte zu einem Dutt zusammengebundene Haare zu bedecken. Die Kopfbedeckung, die traditionell aus himmlischen Farben besteht, wird täglich neu gebunden. Der Dutt bedeckt die sensible Stelle der Fontanelle. Der Turban bietet Schutz vor Hitze, Kälte und Kopfverletzungen.
Vorbildliche Sikhs, die in den Khalsa aufgenommen werden, erkennt man neben ihrem edlen Charakter an fünf einheitlichen Merkmalen, den Panj Kakar (5 K’s):
ungeschnittene und bedeckte Haare (Keski, Kes) - stehen für Natürlichkeit, Demut, Würde und Tugendhaftigkeit
Holzkamm (Kanga) - steht für Reinheit und Hingabe; damit werden die Haare täglich gekämmt
eiserner Armreif (Karha) - steht für Mut; mehrere Armreife zusammen wurden bei Verteidigungsschlachten getragen, um sich vor Schwerthieben und Angriffen zu schützen
Baumwollshorts (Kachaira) - stehen für charakterliche Stärke und Verantwortung; sie bedecken den Unterkörper und sind bequem
kleines Schwert (Kirpan) - steht für die Gnade der Weisheit (Gian Khadag), die das Schlechte beseitigt und das Gute bewahrt; seit dem sechsten Weisen Gur Hargobind begannen Sikhs zur Selbstverteidigung Schwerter zu tragen, nachdem sie zunehmend verfolgt wurden