Von Aladin zur Turban-Phobie - Herausforderungen der Sikhs in Deutschland

Wenn Sikhs zur anonymen Projektionsfläche werden: In den 1980ern wurden Sikhs mit ihrem Turban in westlichen Ländern oft als Exoten wahrgenommen. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA werden Sikhs jedoch weltweit immer wieder beschimpft und diskriminiert und für vermeintlich radikale Muslime gehalten. Foto: Adobe

Gesellschaftliche und religiöse Herausforderungen der Sikhs im Rhein-Main Gebiet und Deutschland

1. Die Sikh-Religion

Die 500 Jahre junge Sikh-Religion – im Original Sikhi genannt – hat ihren Ursprung im heutigen Nord-Indien und geht auf Gur Nanak und seine neun Nachfolger zurück. Sikhs sprechen respektvoll von den zehn Gur Sahiban (Weisen). Die Sikh-Religion ist eine Religion, der eine einheitsstiftende und zugleich die Pluralität wahrende ganzheitliche Lebenshaltung zu Grunde liegt. Sie speist sich mit aus Ansichten, die aus heutiger Sicht als „modern“ und „aufgeklärt“ bezeichnet werden. Dazu zählt beispielsweise die Betonung von Menschenrechten, die Gleichwürdigkeit aller Menschen, die Überwindung scheinbar unhinterfragbarer Dogmen, die Notwendigkeit einer demokratisch und sozial organisierten Gemeinschaft sowie einem respektvollen Umgang mit den Mitmenschen und der Umwelt.

Die Einsichten der Begründer und weiterer nordindischer Weiser sind in dem 1430-seitigen Werk (Adi) Guru Granth Sahib (AGGS) zusammengetragen. Die Schriften wurden von den Begründern selbst in einer poetischen Bildersprache in der eigens entwickelten Schrift Gurmukhi verfasst. Die Kompositionen, die auf musikalischen Melodiefolgen (Raag) beruhen, vereinen verschiedene Sprachen und betonen den universellen Charakter der Religion.

2. Sikhs weltweit

Die Sikh-Religion zählt nach dem Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus mit über 25 Millionen Anhängern zur fünftgrößten Weltreligion. Die Mehrheit der Sikhs ist nach wie vor in Nord-Indien im Bundesstaat Panjab beheimatet. In Großbritannien, Nordamerika und Australien leben heute insgesamt über zwei Millionen Sikhs. Vor allem in Nordamerika, aber auch vereinzelt in Europa, konvertieren Menschen zur Sikh-Religion. In Deutschland, ähnlich wie auf dem restlichen Festland Europas, ist die Sikh-Religion kaum bekannt. Nur wenige wissen einen Mann, der einen wallenden, ungeschnittenen Bart und einen kunstvoll gebundenen Turban trägt, als Sikh einzuordnen. Zum einen liegt es an der relativ geringen Zahl der Sikhs in Deutschland. Zum anderen kommen Sikhs erst in den letzten Jahren verstärkt in der Mitte der Mehrheitsgesellschaft an und sind allmählich in der Lage, sich entsprechend zu artikulieren.

3. Die Modellminderheit – Traditionsbewusst und wirtschaftlich erfolgreich

Sikhs gelten gemeinhin als hart arbeitende Menschen mit hoher Integrationsbereitschaft sowie einem ausgeprägten Sinn für Unternehmertum und soziale Belange. In der Tendenz ist diese Generalisierung richtig. Dies hat mitunter einen religiösen Hintergrund. Die Sikh-Religion betont die Wichtigkeit, den eigenen Lebensunterhalt durch ehrliche und engagierte Arbeit zu bestreiten, einen Teil des Verdienstes mit anderen zu teilen sowie respektvoll mit anderen Bevölkerungsgruppen umzugehen. Sikhs gelten daher oft als eine „model minority“ – also als eine Vorzeigeminderheit, die sich gut integriert und dabei gleichzeitig ihre religiösen Traditionen pflegt, wirtschaftlich erfolgreich handelt und über einen überdurchschnittlich hohen Bildungsstandard im Vergleich zu anderen Minoritäten verfügt.

Die Migrationsgeschichten der Sikhs weltweit sind allerdings länderspezifisch zu differenzieren. In einigen afrikanischen und asiatischen Ländern, wie etwa Uganda oder Thailand, sind Sikhs seit vielen Jahrzehnten ansässig. In den USA und in Großbritannien leben Sikhs bereits seit über hundert Jahren. Die Kolonialisierung Indiens durch die Briten ist ein Grund hierfür. Die koloniale Geschichte Indiens ebnete vielen Sikhs den Weg in die britische Armee. So kämpften ganze Sikh-Regimente auf Seiten der Alliierten während der Weltkriege. Sikhs haben daher im angelsächsischen Raum zum Teil eine gesellschaftliche Stellung, die nicht mit der in anderen Ländern außerhalb Indiens zu vergleichen ist. Beispielsweise sitzen Sikhs dort inzwischen als Abgeordnete im Parlament oder arbeiten als Fernsehmoderatoren, Polizeibeamte, Soldaten, Professoren, Lehrer, Richter, Künstler oder als Vorstandvorsitzende großer Unternehmen. Darüber hinaus engagieren sich Sikhs auch in der Zivilgesellschaft. Sie leiten Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und richten eigene Filmfestivals aus.

4. Die Migrationsgeschichte in Deutschland

Die Einwanderungsgeschichte der Sikhs in Deutschland ist vergleichsweise neuen Datums. Die meisten – zumeist männlichen – Sikhs sind zwischen dem Ende der 1970er und Mitte der 1980er Jahre nach Deutschland eingewandert. Davor waren Sikhs nur vereinzelt in Deutschland beheimatet. Viele Sikhs, die in den letzten drei Jahrzehnten nach Deutschland immigriert sind, haben Asylverfahren durchlaufen. Hintergrund waren vor allem politische Unruhen im Bundesstaat Panjab – aber auch wirtschaftliche Not und Perspektivlosigkeit, verursacht durch hohe Inflation und Korruption. Seit den 1990er Jahren ist die Zahl der Sikhs durch Familienzuzug und neugeborene Kinder langsam aber stetig gestiegen. Waren es in den 1970er Jahren zunächst noch einige hundert Sikhs, leben heute schätzungsweise weit über zehntausend Menschen in Deutschland, die sich zur Sikh-Religion zugehörig fühlen. Mittlerweile verfügen viele eingewanderte Sikhs über einen gefestigten Aufenthalt oder die deutsche Staatsbürgerschaft. Da der Besitz einer doppelten Staatsbürgerschaft – also einer indischen und einer deutschen – nach jetzigem Recht nicht möglich ist, entscheidet sich die Mehrheit der Sikhs für die deutsche Staatsangehörigkeit.

Neben Italien, welches sich in den letzten zehn Jahren zum beliebtesten Einwanderungsland für Sikhs – insbesondere für wenig gebildete männliche junge Arbeitsmigranten – entwickelt hat, halten Deutschland und Holland den größten Anteil an Sikhs in Europa. In beiden Ländern leben zudem einige wenige hundert Sikhs, die ursprünglich einem christlichen Umfeld entstammen. In Frankreich, Spanien, Österreich, der Schweiz aber auch in skandinavischen Ländern ist die Zahl der Sikhs deutlich geringer. In osteuropäischen Ländern sind Sikhs nur vereinzelt ansässig.

5. Grenzen der Modellminderheit in Deutschland – Auswirkungen der strukturellen Zwangsjacke

Auf dem Festland Europa ist die Situation der Sikhs eine spezifische – dies hat vor allem strukturelle und sprachliche Gründe. Wie auch in anderen deutschen Ballungszentren verfügt die erste Generation der Sikhs im Rhein-Main Gebiet über ein geringes Bildungsniveau und entstammt vornehmlich aus ländlichen Gebieten im Panjab. Die wenigen Sikhs, die Englisch beherrschen, konnten nicht wie in angelsächsischen Ländern gleich nach der Einwanderung mit Behörden, Arbeitgebern und Nachbarn kommunizieren. Durch die vergleichsweise rigiden gesetzlichen und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen mussten Sikhs, wie andere Einwanderer auch, jahrelang auf einen gesicherten legalen Status warten. In zahlreichen Fällen erlangten Sikhs erst nach über 15 Jahren einen festen Aufenthaltsstatus und eine Arbeitsgenehmigung. Manche Sikhs allerdings warteten vergebens darauf – sie wurden abgeschoben.

Viele Sikhs der ersten Einwanderungsgeneration haben sich aufgrund der instabilen rechtlichen Perspektive, fehlender legaler Zugänge zum Arbeitsmarkt und zu Bildungs- und Sprachinstitutionen nicht so integrieren und entwickeln können, wie sie es sich gewünscht hätten. Nach vielen Jahren der Ungewissheit haben sie nun aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und dem fortgeschrittenen Alter nur schwer Zugang zum regulären Arbeitsmarkt gefunden. Inzwischen sind zahlreiche Familien aus Deutschland nach Großbritannien ausgewandert, weil sie sich dort bessere berufliche Chancen und eine höhere Akzeptanz als religiöse Minderheit erhoffen. Dass vor allen Dingen strukturelle Gründe mitverantwortlich für die unbefriedigende Situation sind, zeigt sich daran, dass in den englischsprachigen Ländern die ebenfalls großen Gruppen der weniger gebildeten Sikhs sich viel schneller und erfolgreicher in den Arbeitsmarkt integriert haben und über ein wesentlich besser ausgeprägtes Selbstwertgefühl verfügen. Diverse Studien, darunter die im Oktober 2009 erschienene OECD Vergleichsstudie zur Arbeitsmarktintegration von Migrantenkindern, belegen das Argument der „strukturellen Zwangsjacke“.

6. Generationenkonflikte

Die inzwischen über 60-Jährigen der ersten Generation sind zum Teil stark gekennzeichnet von Frustration, Enttäuschung und dem Gefühl der Ausgrenzung. Damit einher geht ein zunehmender Autoritätsverfall dieser Elterngeneration, die es gewohnt war, ein Familienleben entsprechend der patriarchalisch dominierenden Vorstellungen im ländlichen Panjab zu führen. Durch die geringen Kontakte zu Deutschen – mitunter eine Auswirkung der geringen gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten – konnte sie nicht Schritt halten mit der Entwicklung ihrer Kinder. Ihre in der Regel sehr gut integrierten und fließend Deutsch sprechenden Kinder hinterfragen die althergebrachten Einstellungen, die ihnen überholt und sogar in Widerspruch zu den Einsichten der Religionsgründer erscheinen. Dadurch fühlt sich diese Elterngeneration noch ohnmächtiger und es kommt zu Entfremdungserscheinungen mit den Kindern. Eltern, die die Möglichkeit hatten zu arbeiten, waren wiederum oft so mit existenzsichernden Aktivitäten befasst, dass sie nur wenig Zeit für die schulische und religiöse Bildung ihrer Kinder aufbringen konnten. Diese Kinder haben sich dann entsprechend wenig mit ihren religiösen und kulturellen Wurzeln befasst und sich in Richtungen entwickelt, die die Eltern nun als „enttäuschende Fehlentwicklung“ ansehen. Im Ergebnis finden sich bei beiden Konstellationen teilweise konflikthafte Familienverhältnisse.

7. Sikhs im Rhein-Main Gebiet

Im Rhein-Main Gebiet arbeiten und wohnen inzwischen einige tausend Sikhs. Die zentrale Lage in Deutschland, die Nähe zum internationalen Flughafen, die vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten sowie die pluralistische Zusammensetzung der Region wirken auf Sikhs attraktiv. Die Finanzmetropole zählt somit den höchsten Anteil an Sikhs in Deutschland. In den letzten Jahren ist aufgrund der relativ moderaten Mietpreise ein verstärkter Zuzug nach Offenbach zu verzeichnen. Weitere deutsche Städte, in denen sich Sikhs vornehmlich niedergelassen haben, sind Stuttgart und Hamburg sowie das Ruhr-Gebiet. Die meisten Sikhs arbeiten als Unternehmer oder als Angestellte in der Gastronomie, in der Textil- und Schmuckindustrie, als Taxifahrer und als Hilfsarbeiter. Einige wenige sind hochqualifizierte Fachkräfte und sind als Ingenieure, Lehrer, Dozenten oder Ärzte tätig. In den letzten Jahren ist insbesondere die Zahl der Mädchen gestiegen, die ein Gymnasium besuchen. Einige Sikhs absolvieren derzeit eine Ausbildung, studieren oder haben gerade einen Hochschulabschluss erworben.

8. Der Gurdwara in Frankfurt - Die religiöse Schulstätte der Sikhs

Die erste größere religiöse Stätte der Sikhs wurde 1978 in der Kleyerstraße im Gallusviertel in Frankfurt am Main eröffnet. Der Gurdwara Singh Sabha e.V. war als solcher nicht erkennbar und wie die damaligen Moscheen in einem Hinterhof eines ehemaligen Betriebes angesiedelt. Nur die traditionelle sonnenblumenfarbige Fahne – der Nishan Sahib – verriet dem Kenner, dass es sich um einen Gurdwara handelte. Aufgrund der steigenden Anzahl der Gemeindemitglieder, fehlender Parkmöglichkeiten, aber auch wegen Vorwürfen der Lärm- und Geruchsbelästigung durch Nachbarn, die sich durch die Rezitationen und das panjabische Essen gestört fühlten, zog die Gemeinde 1993 um. Als Gurdwara diente nun eine ehemalige Fabrik in der Sontraer Straße in Fechenheim. Aufgrund von Misswirtschaft im Vorstand, so zumindest die Aussagen alteingesessener Sikhs, und wegen rechtlichen Schwierigkeiten musste das Gelände wieder verlassen werden. Die genauen Umstände wurden nie ganz geklärt und sind bis heute ein sensibles Thema in der Gemeinde.

Seit 1998 befindet sich der Gurdwara Sikh Center e.V. in einer stillgelegten Betriebshalle in der Nähe der Jahrhunderthalle in Frankfurt Höchst/Unterliederbach. Durch die Entstehung der Ballsporthalle und neuer Wohnungen hat die Industriegegend um den Gurdwara herum in den letzten Jahren eine Aufwertung erfahren. Das zweistöckige Gebäude, welches unweit der S-Bahn Station „Frankfurt Farbwerke“ in der Silostraße 64 liegt, bietet mehreren hundert Personen Platz und hat zahlreiche Parkplätze. Die Anschaffungs- sowie die laufenden Kosten für die Stätte werden ausschließlich durch Spenden der Gemeinde finanziert. Im Untergeschoss befindet sich die Halle, in der die traditionellen Speisen (Langar) für alle Besucher kostenfrei angeboten werden. Im Obergeschoss ist der Raum gelegen, in dem aus dem (Adi) Guru Granth Sahib rezitiert, gesungen und erläutert wird. Zusätzlich verfügt der Gurdwara über einige Zimmer und eine kleine Bibliothek mit religiösen Büchern. Der Gurdwara, der traditionsgemäß allen Menschen offen steht, wird seit dem Kauf in Etappen renoviert. Kürzlich erst wurde eine kleine Kuppel im Eingangsbereich an der Seite des Gebäudes angebaut. Insgesamt ist der Gurdwara – den sonntags mehrere hundert Besucher füllen – aber kaum als religiöse Stätte für Außenstehende zu erkennen.

9. Herausforderungen im Alltag - Von Aladin zur Turban-Phobie

Nicht nur im Rhein-Main Gebiet sind Sikhs mit internen und externen Herausforderungen im Hinblick auf ihre Religion konfrontiert, die, wenn nicht zu einer Entfremdung von religiösen Traditionen, so doch zumindest zu einer Verunsicherung führen.

Wurden Sikhs in den früheren Jahrzehnten eher mit exotischen Bemerkungen wie „Aladin“ oder „Prinz“ bedacht, so werden vor allem männliche Sikhs seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York mit Beleidigungen oder gar rassistischen Übergriffen konfrontiert. Zielscheibe sind vor allem Sikhs, die der Tradition entsprechend ihren Respekt für die Schöpfung durch ungeschnittene Haare, die mit einem Turban geschmückt werden, zum Ausdruck bringen. Sie werden auf der Straße mit den Worten „Taliban“, „Terrorist“ ”, „Al-Qaida”, „Araber“ oder „fanatischer Moslem” bedacht. Durch das einprägsame Bild des bärtigen, Turban tragenden Osama bin Laden werden Sikhs fälschlicherweise für gewaltbereite Muslime gehalten und geraten in das Visier unkundiger Mitmenschen. Nachdem ein Videoband von Osama bin Laden im Fernsehen gezeigt wird, häufen sich die beschriebenen Vorfälle. Ein couragierter Einsatz von Bürgern bei Beleidigungen in der Öffentlichkeit bleibt dabei in der Regel aus. Werden die Verantwortlichen von Sikhs selbst zur Rede gestellt, leugnen diese erfahrungsgemäß ihre Tat. Gerade auf junge Sikhs, die (noch) nicht über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügen, wirken solche Vorfälle verstörend und desintegrierend.

Gleichzeitig schauen Sikhs mit Argwohn nach Frankreich, wo das vermeintliche „Anti-Diskriminierungsgesetz” neben dem Kopftuchverbot an Schulen und Universitäten – mehr unwissentlich als geplant – auch den Turban der Sikhs getroffen hat. Seit dem sogenannten „Kopftuchurteil“ des Bundesverfassungsgerichtes im Jahre 2003 sind in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland entsprechende Gesetze für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen in Kraft. Die Länder Berlin und Hessen haben gar Gesetze für den gesamten öffentlichen Dienst erlassen. Inzwischen haben zahlreiche junge Sikh-Männer im Rhein-Main Gebiet ihre Haare und Bärte geschnitten und den Turban abgelegt. Sie begründen diesen Schritt nicht nur mit modebedingten Motiven, sondern führen auch Beleidigungen in der Öffentlichkeit und eben auch Akzeptanzprobleme in der Arbeitswelt an. Es liegen schriftlich dokumentierte Fälle vor, bei denen Arbeitgeber fachlich geeignete Sikhs dazu auffordern, ihren Bart und Turban zu entfernen, wenn sie eingestellt werden wollen.

10. Nabelschau der ersten Generation

Intern spielen komplexe religiöse Gründe eine Rolle für eine Abwendung von der Religion. Die Elterngeneration bemüht sich zum Teil trotz der vielfältigen persönlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die Migration mit sich bringt, bestmöglich um die religiöse und schulische Ausbildung ihrer Kinder. Gleichwohl wissen sie selbst nur wenig über ihre Religion und beklagen ebenso wie Jugendliche die mangelhafte Vermittlungsleistung religiöser Werte in den Gurdwara. Ein generationenübergreifendes und alltagsorientiertes Angebot mit einem Bezug zum Leben in Deutschland wird vermisst. Inzwischen herrscht unter jungen Sikhs die Wahrnehmung, dass die Schulstätten von religiös fragwürdigen Auslegungen und pseudo-politischen Debatten sowie Führungsstreitigkeiten beherrscht werden. Die religiös und schulisch wenig gebildeten Verantwortlichen, die überwiegend aus der ersten Generation stammen, würden sich primär einer Nabelschau hingeben, so die Meinung einiger Jugendlicher. Hinzu kommt die vermehrte Zuwanderung von Arbeitsmigranten, die an den religiösen Inhalten kaum interessiert sind und eher aus sozialen und kulinarischen Gründen in großer Anzahl die Gurdwara besuchen.

Überzeugende Vorbilder in der nachfolgenden Generation, die die beschriebenen Defizite inhaltlich und sprachlich überwinden könnten, sind indes noch Mangelware beziehungsweise finden selten Gehör. Entsprechend isoliert agiert bisher nicht nur der Frankfurter Gurdwara. Anknüpfungspunkte zu anderen Religionsgemeinschaften oder der Stadt Frankfurt finden sich nur sporadisch und gehen zumeist auf die Bemühungen Einzelner zurück.

11. Gemeinsame Zukunftsgestaltung

Sowohl die Sikhs – insbesondere die nachfolgenden Generationen – als auch engagierte Bürger und die Verantwortlichen der Stadt Frankfurt sind gemeinsam gefordert, Hemmnisse, die eine nachhaltige Entwicklung der Sikh-Gemeinde sowie eine gegenseitige Öffnung erschweren, zu überwinden. Ein erster Schritt ist eine innere Reform und Entwicklung der Gemeinde. Positive Impulse wurden jüngst durch junge, gut ausgebildete Sikhs gesetzt, die sich zunehmend auch über das Internet vernetzen. Erstmalig in Deutschland wird im Frankfurter Gurdwara ein Religionsunterricht mit Alltagsbezug in deutscher Sprache angeboten. Im neu gegründeten Frankfurter Rat der Religionen sind auch Sikhs vertreten. Sie engagieren sich gemeinsam mit den Ratsmitgliedern für den interreligiösen Dialog und bringen die Vernetzung der Gemeinde mit der Stadt Frankfurt voran.

Parallel zu den Bemühungen der Gemeinde bedarf es einer Unterstützung von Seiten der Stadt und dem Land Hessen – und zwar nicht nur bei diskriminierenden Vorfällen, sondern vor allem bei der systematischen Sensibilisierung von Behörden, Arbeitgebern und der Öffentlichkeit im Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt. Erste Ansätze finden sich in dem jüngst erarbeiteten „Integrations- und Diversitätskonzept“ der Stadt Frankfurt. Gleichzeitig ist es notwendig, dass die (lokalen) Medien angemessen differenziert und auch jenseits der üblichen Themenschwerpunkte wie „Integrationsprobleme“ und „Terrorismus“ berichten. Dabei können gerade auch Reportagen über positive Errungenschaften religiöser Minderheiten oder Einzelner als Korrektiv gegen die verbreitete negative Berichterstattung dienen.

Humane, moderne und erfolgreiche Gesellschaften zeichnen sich durch Partizipation und Chancengleichheit aus. Sie orientieren sich an den Potentialen der Menschen und fördern diese. Gesamtgesellschaftlich muss es daher gelingen, Menschen, die - wie die Sikhs - einer religiösen Minderheit entstammen, faktisch aber auch gefühlsmäßig zu zeigen, dass sie vollwertige und respektierte Mitbürger sind. Auch im Rhein-Main Gebiet.

Quelle

Der Text basiert auf folgender Publikation: Singh, Khushwant. 2010. Von Aladin zur Turban-Phobie – Gesellschaftliche und religiöse Herausforderungen der Sikhs im Rhein-Main Gebiet und in Deutschland, Hrsg.: Hessische Landeszentrale für politische Bildung – Mechtild M. Jansen, Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main – Helga Nagel. Religion, Migration und Gesellschaft, Bad Homburg: Verlag für Akademische Schriften, S. 137 – 146.

Khushwant Singh

hat Ethnologe und Erziehungswissenschaften an der Universität Heidelberg sowie Sozialanthropologie am Goldsmiths College der University of London studiert und jeweils mit Auszeichnung abgeschlossen. Er ist Gründungsmitglied und ehemaliger Vorsitzender des Rates der Religionen Frankfurt. Neben dem interreligiösen Dialog ist er ehrenamtlich engagiert in der Jugendbildung und kooperiert u.a. mit der Stiftung Weltethos, dem Abrahamischen Forum (Religionsgespräche), dem Arbeitskreis Religionen und Naturschutz und der Stiftung gegen Rassismus. Ausgehend von Gurmat, zeitlosen Weisheiten, die im Zentrum der Sikhi stehen, publiziert Singh zu den Themen Ethik, Spiritualität, Verhaltensänderung und Nachhaltigkeit. Er spricht auf Konferenzen, an Universitäten und Schulen zu ethischen Grundfragen in Verbindung mit aktuellen Menschheitsherausforderungen. Hauptberuflich leitet er das Sekretariat der Internationalen Partnerschaft zu Religion und nachhaltiger Entwicklung (PaRD).

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