Religionsfreiheit in Uniform: Stärkung der Teilhabe von Minderheiten im Staatsdienst am Beispiel der Sikhs im Wehrdienst der Bundeswehr
Der Turban, Dastar genannt, schmückt die ungeschnittenen Haare von Sikhs. Er drückt Natürlichkeit, Demut, Hingabe, Loyalität und ein tugendhaftes Leben aus. Sikhs wickeln ihn täglich neu und tragen ihn mit Würde - auch am Arbeitsplatz. Im Bild ist ein Sikh zu sehen, der in der amerikanischen Armee dient. In den USA, Kanada, Großbritannien und Indien sind Sikhs mitsamt ihrem Turban und dem Schwert der Weisheit, die Kirpan, ein selbstverständlicher Teil des Staatsdienstes. Dort arbeiten sie an Schulen, in Gerichten sowie bei der Polizei und den Streitkräften. Credits: Unsplash
Überlegungen zu Religionsfreiheit und Wehrdienst im 21. Jahrhundert – Wege zur gleichberechtigten Teilhabe
In Verantwortung für die deutsche Gesellschaft zeigt der folgende Text am Beispiel des neuen Wehrdienstmodells der Bundeswehr auf, wie die rechtssichere Teilhabe von Minderheiten wie den Sikhs am Staatsdienst gestärkt werden kann.
Der Rat der Sikhi
Der Rat der Sikhi ist eine ehrenamtliche, globale Initiative. Er vermittelt Einblicke in die Weisheiten, die im Herzen der fünftgrößten Weltreligion Sikhi stehen. Sikhi, so wird die Sikh-Religion im Original genannt, entstand im 15. Jahrhundert im Panjab, im heutigen Nord-Indien bzw. Pakistan. Sie inspiriert ca. 25 Millionen Sikhs weltweit und rund 35.000 im deutschsprachigen Raum. Auf Basis der einheitsstiftenden und gemeinwohlorientierten Einsichten der Sikhi fördert der Rat den Austausch unter Sikhs sowie den interreligiösen Dialog. Der Rat engagiert sich für ein gesundes, würdevolles und ethisches Leben im Einklang mit der Natur. Er steht ein für ein friedliches Miteinander sowie für Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Die Schwerpunkte des Rates der Sikhi liegen gemäß der globalen Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 (SDGs) der Vereinten Nationen auf Wohlergehen, Bildung, Umweltschutz, Frieden- und Gerechtigkeit sowie Partnerschaften. Medien, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie staatlichen Stellen steht er als Ansprechpartner zur Verfügung. Zu den Kooperationspartnern des Rates der Sikhi in Deutschland zählen die Stiftung Weltethos, die Stiftung gegen Rassismus, der Rat der Religionen Frankfurt sowie Religionen Entdecken.
Das neue Wehrdienstmodell – Chance für mehr Resilienz
Die Initiative der Bundesregierung zum Neuen Wehrdienst durch das freiwillige Wehrdienstmodell kann die personelle Resilienz der Bundeswehr in volatilen Zeiten stärken und die bestehenden Ressourcen der Bevölkerung mobilisieren, um die notwendige Verteidigungsfähigkeit Deutschlands sowie Europas sicherzustellen. Dabei ist zentral, alle Bevölkerungsgruppen mitzunehmen und niemanden auszuschließen.
Ausschluss von Sikhs wegen dem Turban – Religionsfreiheit unter Druck
Jedoch ist wiederholt bekannt geworden, dass insbesondere Praktizierende der Sikh-Religion ein Eintritt in die Bundeswehr verwehrt wird – pauschal mit dem Hinweis, das Tragen eines Turbans sei nicht mit militärischem Dienst vereinbar. Unter anderem liegt aktuell ein Fall aus Frankfurt bzw. Mainz vor. Der Turban, der die ungeschnittenen Haare bedeckt, ist ein integraler Bestandteil des Sikh-Seins. Der Turban symbolisiert Demut, Hingabe und Loyalität. Darüber hinaus bietet er nachweislich Schutz vor Verletzungen sowie vor Hitze und Kälte; zudem gibt es für den Verteidigungsfall eigens besonders stabile Turbantechniken wie dem Dumala, bei denen zum Teil auch Eisenketten miteingebunden werden. Der Turban dient ausdrücklich nicht der Werbung für den eigenen Lebensweg, zumal die Sikh-Religion Missionierung grundsätzlich ablehnt.
Internationale Beispiele – Gelebte Vielfalt im Staatsdienst und historische Verdienste der Sikhs in den alleierten Streitkräften
In Großbritannien, Kanada, den Vereinigten Staaten von Amerika, Indien und weiteren Ländern ist das Tragen des Turbans im Militär, bei der Polizei, im Schuldienst, bei Gericht und in anderen Bereichen des Staatsdienstes und internationalen Organisationen seit Langem etabliert und akzeptiert. Dort sind Sikhs fester Bestandteil der Streitkräfte und leisten ihren Dienst in Uniform mit Turban und ihrem ungeschnittenen Bart. Ein Beispiel ist der vorangegangene Verteidigungsminister Kanadas, Harjit Singh Sajjan, der zuvor Kommandeur des British Columbia Regiments war. Der aktuelle Präsident der Weltbank, Ajaypal Singh Banga, ist ebenso ein Sikh. Manmohan Singh war ein angesehener indischer Ökonom und war in den 1990er-Jahren indischer Finazminister. Er gilt als Architekt der Wirtschaftsreformen Indiens. Von 2004 bis 2014 war er der erste Sikh, der Indien als Premierminister diente. Weltweilt wurde er wegen seiner Kompetenz, Integrität und Bescheidenheit hoch angesehen. Dabei hat sich in all diesen Fällen das Tragen des Turbans bzw. des traditionellen symbolischen Schwertes in keiner Weise nachteilig auf die Loyalität gegenüber dem jeweiligen Land, dem Arbeitgeber, der Einsatzfähigkeit oder die organisatorischen Abläufe ausgewirkt.
Werte wie die Achtung der Menschenwürde, Hingabe an Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit sowie Solidarität, Treue und Tapferkeit sind zentraler Bestandteil in der Sikhi - ebenso wie im Staatsdienst und demgemäß auch in der Bundeswehr, der NATO und anderen Verteidigungskräften. Es besteht eine lange Tradition der gleichberechtigten Teilhabe von Sikhs im öffentlichen Dienst und im Militär. Sikhs dienten im Ersten und Zweiten Weltkrieg in großer Zahl in den alliierten Streitkräften. Sie wurden und werden bis heute für ihre Loyalität, Disziplin und Einsatzbereitschaft hochgeschätzt. 2015 wurde das Sikh Memorial im Londoner Green Park eingeweiht. Es würdigt den außergewöhnlichen Beitrag von mehreren Hunderttausend Sikh-Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg und erinnert an ihren Mut, ihre Opferbereitschaft und ihre Treue.
Sikh-Soldaten 1918 im ersten Weltkrieg. Der Guru Granth Sahib, die Schriftensammlung mit den überlieferten zeitlosen Weisheiten, die im Herzen der Sikhi stehen, wird respektvoll über dem Kopf getragen. Credits: Wikipedia
Sikhs zwischen gelebter Verantwortung und Einschränkung ihrer Religionsfreiheit
Sikhs erleben gleichwohl gerade auch in Europa Herausforderungen und Einschnitte in ihrer Religionsausübung, vor allem wegen des Turbans aber auch bezüglich des symbolischen kleinen Schwertes, der Kirpan. Initiierte vorbildliche Sikhs, die der Gemeinschaft des Khalsa angehören, legen einen Eid ab, Solidarität und Verantwortung zu stärken, sich für den Frieden, das Gemeinwohl und diejenigen einzusetzen, die sich nicht selbst wehren können. Diese Haltung wird durch das Schwert der Weisheit symbolisiert.
Der Umstand, dass derzeit selbst im öffentlichen Raum – beispielsweise im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs oder an Schulen – neue pauschale Vorschriften bzw. Verordnungen in einigen Bundesländern erlassen wurden, welche auch das Tragen eines religiösen Symbols wie der Kirpan beschränken, führt zu weiteren unverhältnismäßigen Eingriffen in die verfassungs- und menschenrechtlich geschützte Religionsfreiheit. Dies wird insbesondere dadurch evident, dass bislang keine Fälle bekannt sind, in denen Sikhs durch das Tragen ihrer religiösen Symbole in irgendeiner Weise gesellschaftsschädigend in Erscheinung getreten wären.
Rechtliche Lage – Schutz durch Grundgesetz, Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und internationale Abkommen
Die Praxis in Deutschland, praktizierende Sikhs per se nicht in den Staatsdienst aufzunehmen, sei es als Lehrer, Richter oder im vorliegenden Fall Soldaten, entspricht nicht dem Anspruch einer potenzialorientierten demokratischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Sie verletzt in klarer Weise Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 4 (Religionsfreiheit) des Grundgesetzes und ist ebenso ein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Die Religionsfreiheit sichert eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am Staatsleben und Beruf. Das grundgesetzliche Prinzip darf nicht durch einseitige und diskriminierende Auslegung von Ordnungsvorschriften unterlaufen werden.
Die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) sowie das im Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot (Art. 3 GG) werden durch einschlägige Urteile konkretisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass religiöse Bekleidung und Symbole grundsätzlich auch im öffentlichen Dienst zu respektieren sind, solange keine konkrete Gefährdung der Funktionsfähigkeit oder der staatlichen Neutralität vorliegt (BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, „Kopftuch II“). Pauschale Verbote wurden dabei ausdrücklich als verfassungswidrig eingestuft; eine Einschränkung ist nur bei nachweisbarer, konkreter Gefährdung zulässig. Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für den Turban wie für die Kirpan, deren religiöse Bedeutung im Rahmen der verfassungsrechtlich geschützten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu berücksichtigen ist.
Auch auf europäischer Ebene ist die Religionsfreiheit klar geschützt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat wiederholt festgestellt, dass Eingriffe in die Religionsausübung nur unter strengen Voraussetzungen zulässig sind (EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001 – Dahlab/Schweiz; EGMR, Urteil vom 15. Januar 2013 – Eweida u. a./Vereinigtes Königreich). Im Fall Eweida bejahte der EGMR eine Verletzung von Art. 9 EMRK und forderte eine faire Abwägung zwischen betrieblichem Interesse und individueller Religionsausübung. Ergänzend garantiert Art. 10 der EU-Grundrechtecharta die Freiheit der Religion, während die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen aufgrund der Religion untersagt. Der UN-Menschenrechtsausschuss bestätigte im Fall Ranjit Singh / Frankreich (CCPR/C/102/D/1876/2009, 22.07.2011), dass ein Verbot des Turbans auf Ausweisfotos einen Verstoß gegen Art. 18 IPbpR darstellt.
Die Rechtslage und die vorliegenden gerichtlichen Auslegungen machen deutlich, dass pauschale Verbote religiöser Symbole – wie des Turbans oder der Kirpan – ohne differenzierte sowie verhältnismäßige Abwägung einen Verstoß gegen geltendes nationales und internationales Recht darstellen.
Vergleichsbeispiele – Vorbildliche Lösungen aus anderen Demokratien
Europäische Vergleichsbeispiele zeigen praktikable Lösungen auf: So sieht das Vereinigte Königreich mit § 139(5)(b) Criminal Justice Act 1988 ausdrücklich Ausnahmen für das Tragen der Kirpan aus religiösen Gründen vor („for religious reasons“). Das Berufungsgericht in Antwerpen (12.10.2009; 1204 P 2007) hat die Kirpan als religiöses Symbol anerkannt. Schließlich hat auch der Supreme Court of Canada im wegweisenden Multani-Urteil (2006 SCC 6, 1 S.C.R. 256) das Tragen der Kirpan an Schulen unter verhältnismäßigen Sicherheitsauflagen zugelassen – ein vielzitiertes Beispiel für interkulturell angemessene und langfristig tragfähige Lösungen anstelle pauschaler Verbote.
Dies zeigt, dass in einer demokratischen und menschenrechtsorientierten Gesellschaft tragfähige Lösungen gefunden werden können. Vor allem dann, wenn konsultative und konsensorientierte Gesetzgebungsprozesse unter Einbeziehung von Experten und möglichen Betroffenen stattfinden und Gerichtsentscheidungen getroffen werden, die Minderheitenrechte – also eben auch Belange religiöser Minderheiten – berücksichtigen, bevor eine Regulierung erfolgt bzw. neue Gesetze erlassen werden, die eine pauschale Anwendung finden.
Die Gleichsetzung einer religiösen Kopfbedeckung mit Dienstunfähigkeit entbehrt einer sachlichen Grundlage und ist entsprechend in zahlreichen Demokratien längst überwunden. Vor diesem Hintergrund erscheint auch in Deutschland eine Anpassung der bisherigen Praxis sachgerecht und überfällig.
Gesellschaftliche Folgen von Diskriminierung – Gefahr der Entfremdung
Die aktuellen diskriminierenden Vorkommnisse untergraben nicht nur das Vertrauen in die Bundesregierung und staatliche Behörden, sondern auch das Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland als Heimat. Gerade Heranwachsende wenden sich nach wiederholten ausgrenzenden Erfahrungen nachweislich von ihrem eigentlichen Heimatland – im vorliegenden Fall Deutschland – und der Politik ab, wandern aus oder radikalisieren sich. Erfahrungen, die zu gesellschaftlicher Marginalisierung führen, laufen zudem den Zielen der Bundesregierung zuwider: Die anvisierte Erhöhung der Truppenstärke auf rund 260.000 Soldaten bis 2035 und die Ausrichtung auf die Landes- und Bündnisverteidigung ist nur mit einem inklusiven Potenzialansatz möglich. Dies bedarf einer umfassenden Restrukturierung, Modernisierung und die Einführung eines neuen und inklusiven Wehrdienstmodells, das die Fähigkeit zum nachhaltigen Aufwuchs und zur Durchhaltefähigkeit stärkt.
Handlungsbedarf – Konkrete Schritte zur Stärkung von Teilhabe
Es besteht ein dringender Handlungsbedarf, Vertrauen zu stärken sowie interkulturell angepasste Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die die erörterten Schieflagen im Sinne des Wohles der Bundesrepublik und der EU beseitigen. Grundlegend ist dabei, Verzögerungen infolge von Verantwortungs- und Zuständigkeitsdiffusion zu überwinden und stattdessen zeitnah konkrete Schritte und Erlasse umzusetzen, die im Alltag und Berufsleben – auch für Minderheiten – bundesweit spürbar werden. Erforderlich ist, ein institutionalisiertes, inklusives und interkulturell angemessenes Verfahren zur grundsätzlichen Regelung religiöser Ausstattungsstücke im Wehrdienst anzustoßen – und transparente Leitlinien, die Religionsfreiheit und Wehrfähigkeit in Einklang bringen, zu entwickeln sowie eine Öffentlichkeitsarbeit zu etablieren, die (religiöse) Vielfalt als Stärke und nicht Schwäche betont.
Inklusion und Minderheitenrechte als Lackmustest des neuen Wehrdienstes
Gerade in Zeiten, in denen politische Mehrheitsbildungen aufgrund wachsender Parteienvielfalt und gesellschaftlicher Polarisierung anspruchsvoller werden, gewinnen die Stimmen kleinerer Gruppen und Minderheiten an Bedeutung. Es ist daher umso wichtiger, gemeinsam Sorge dafür zu tragen, dass deren Anliegen Gehör finden. Auf diese Weise kann Politikverdrossenheit vorgebeugt und zugleich ein Klima der Zugewandtheit sowie die demokratische Teilhabe gestärkt werden.
Ausgehend von den angeführten Überlegungen und Anregungen wäre ein respektvoller Aushandlungsprozesses mit den Entscheidern im Verteidigungsministerium als auch mit weiteren relevanten Stellen der Bundesregierung, des Parlaments sowie den entsprechenden Ausschüssen und Beauftragten angezeigt (u. a. Inneres und Heimat, Recht, Menschenrechte, Wehrbeauftragter, Beauftragter der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, Antidiskriminierungsstelle). Ziel wäre dabei, eine nachhaltige und rechtssichere Praxis im Umgang mit religiösen Praktiken und Symbolen von Minderheiten auch im Wehrdienst zu entwickeln.
Mit Zuversicht und Mut wird es möglich sein, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, die – gerade angesichts wachsender rechtsradikaler Tendenzen und gesellschaftlicher Fragmentierung in Deutschland und anderen europäischen Ländern – das Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühl über alle Bevölkerungsgruppen hinweg stärken. Die Praxis der Rekrutierung im Wehrdienst stellt hier einen Lackmustest dar.